Nach 70 Jahren muss die Verfassung enkelfähiger werden
Der Jubilar ist im besten Alter. Das Grundgesetz hat sich in den letzten 70 Jahren bewährt. Aber was gut bleiben soll, muss ständig verbessert werden. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) regt hierzu eine breite Debatte im Bundestag und der politischen Öffentlichkeit an. „Wir sprechen uns klar und eindeutig für die Aufnahme des Nachhaltigkeitsprinzips in das Grundgesetz aus“, so die Ratsvorsitzende Marlehn Thieme zum gestrigen Geburtstag des Grundgesetzes.
Nachhaltigkeit muss aus Sicht des RNE in der Verfassung verankert werden, damit die Zukunft einen rechtlichen Stellenwert erhält. Eine generationengerechte Nachhaltigkeit müsse alle Politikbereiche durchziehen, so Marlehn Thieme. „Wir empfehlen, die nachhaltige Entwicklung verfassungsrechtlich verbindlich zu machen, sonst bleiben wir angesichts des raschen Wandels hinter dem zurück, was für den Erhalt unserer Demokratie erforderlich ist.“
Dabei gehe es nicht allein um ökologische Aspekte, sondern gerade auch um soziale und wirtschaftliche Fragen. Die Demokratie braucht das Nachhaltigkeitsprinzip, damit über Wahlperioden hinweg für die dauerhafte Sicherung von Gemeinschaftsinteressen vorgesorgt wird. Angesichts von Klimawandel, Meeresverschmutzung und auch sozialer Herausforderungen in Deutschland und weltweit sowie der universell geltenden Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen wird das immer dringlicher.
Der Nachhaltigkeitsrat unterstützt Vorschläge von hochrangigen Verfassungsrechtlern, etwa des ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichtes Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier und des ehemaligen Rektors der Universität Speyer Prof. Dr. Joachim Wieland. Papier hat erst kürzlich auf Einladung der Unionsfraktion des Deutschen Bundestages eindrucksvoll dargelegt, dass das Nachhaltigkeitsprinzip ein wirkungsvolles Staatsziel wäre. Es wäre dann ein normativer Gestaltungsauftrag, der bei evidenter Missachtung oder Vernachlässigung verfassungsrechtlich sanktionierbar wäre.
Der Nachhaltigkeitsrat weist kritisch auf den Nachholbedarf hin, den Deutschland im Hinblick auf die selbst gesteckten Ziele etwa zu Bildungschancen, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Gesundheit sowie zur Biodiversität und zum Ressourcenschutz hat. Diesen Nachholbedarf haben hochrangige Expertinnen und Experten unter Leitung von Helen Clark, der langjährigen Chefin der VN–Entwicklungspolitik, gegenüber der Bundeskanzlerin deutlich gemacht.
Würde Nachhaltigkeit zum Staatsziel erhoben, so Marlehn Thieme, könnten alle Gesetze und Verwaltungsentscheidungen auf ihre Zukunftsfähigkeit – ihre „Enkelfähigkeit“ – hin überprüft werden. „Unser Grundgesetz muss für einen großen Lernprozess gerüstet werden. Wir müssen lernen, Transformationen zu gestalten und die Entscheidungsfreiheit künftiger Generationen besser zu achten, damit das Grundgesetz nicht nur die einzigartige Würde und Freiheit des Menschen heute, sondern auch zukünftiger Generationen und ihrer Lebensgrundlagen wirksam schützen kann.“