Warum das Grundgesetz nicht durch eine gesamtdeutsche Verfassung ersetzt wurde

Ein neuer Band geht aus rechts- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, warum die deutsche Wiedervereinigung nicht zum Anlass genommen wurde, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden. Der Band erscheint zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes. Er zeigt, dass die schon damals erkannte „verpasste Chance“ tiefergehende Gründe hatte als den oft angeführten Ost-West-Gegensatz.
Am 23. Mai wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Eine eigentlich als Provisorium gedachte Verfassungsordnung ist damit zum langlebigen Betriebssystem der deutschen Demokratie geworden. Dies ist umso bemerkenswerter, als die deutsche Vereinigung 1990 eigentlich die Gelegenheit (und laut Artikel 146 GG auch die Notwendigkeit) brachte, eine neue gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Stattdessen trat das Grundgesetz in den „fünf Neuen Bundesländern“ unverändert in Kraft. Warum? Zeigt sich darin das Desinteresse „der“ Westdeutschen – wie neuerdings wieder vermutet wird? Oder ließen die Bedingungen der Zeit schlicht keine andere Lösung zu?
Der neue Band „Die Wiederbelebung eines »Nicht-Ereignisses«?“ aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, herausgegeben von der Historikerin Kerstin Brückweh vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner, nimmt sich dieser Frage an. Er versammelt zwölf Beiträge von namhaften Fachleuten aus Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaft. Sie gehen aus ost- und westdeutscher sowie generationen- und disziplinübergreifender Perspektive der Frage nach, wieso in einem so zentralen Moment der deutschen Geschichte kein Neuanfang für eine deutsche Verfassung möglich war. Die Beiträge beleuchten vor allem die Verfassungsdebatten, die zwischen 1989 und 1994 geführt wurden.

„Nicht genug Mut für einen Neuanfang“
Es ist schade, dass die Akteure Anfang der 1990er so wenig Mut hatten, einen Neuanfang durch eine gemeinsame Verfassung zu wagen, findet Herausgeberin Kerstin Brückweh und fügt hinzu: Vielleicht ist es aber auch ehrlich und realistisch, denn es war kein Anfang unter Gleichen. Die Autorinnen und Autoren des Bandes zeigen: Während die einen in diesem historischen Moment die Chance sahen, schon lange diskutierte Themen wie den Umweltschutz, angepasste Familienmodelle oder Kinderrechte in die Verfassung einzubringen, sahen andere keinen Anlass, das schon lange funktionierende Grundgesetz – zumal in Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – zu ändern. Zwischen hohem Engagement für neue Verfassungsentwürfe, utopischen Ideen und Bürgerwünschen wurde die Frage letztlich im routinierten Betrieb von Politik und Verwaltung unter den Tisch fallen gelassen. Das Buch erscheint im April bei Mohr Siebeck.

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