Anstand bestimmt die Umgangsformen. Zum Beispiel habe ich so viel Anstand, Armin bei den wenigen gemeinsamen Familienfeiern nicht zu erwürgen, wenngleich mir schon der Sinn danach stünde. Armin ist der Cousin von Rita oder der Großcousin – was weiß ich. Rita ist meine Tante väterlicherseits – das nur der Vollständigkeit halber. Im Gegenteil, ich kenne inzwischen seine kulinarischen Vorlieben und gehe auch gern darauf ein. Weil sich das so gehört. Ich verstelle mich. Aber ich bin anständig. Die Frage, ob ich deshalb ein guter oder eher ein schlechter Mensch bin, spielt dabei lediglich für mich selbst eine Rolle. Bin ich gut, weil ich ihn anständig behandle oder bin ich schlecht, weil mein Anstand in diesem Fall schlichtweg auf Verstellung – also auf Lüge – beruht? Kann man Anstand und Ehrlichkeit gegeneinander aufwiegen?
Frage ich doch mal anders: Was ist Ihnen lieber, ein ehrlicher oder ein anständiger Mensch? Aber seien Sie mit der Antwort vorsichtig! Am sichersten fährt man immer noch mit einem ehrlichen unanständigen Menschen. Da weiß man, woran man ist. Verlässlich. Wenn jemand die Altanschließer hängen lässt, ist er zwar nicht unbedingt anständig, aber wohl ehrlich. Und wenn derjenige Vorsteher des betreffenden Zweckverbands Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Fürstenwalde und Umland ist, wundert das nur Blauäugige und Milchmädchen. Aber die gehen wahrscheinlich ohnehin nicht zur Kommunalwahl. Damit verschafft sich ganz ohne eigenes Zutun einer der Mitbewerber um das höchste Stadtverwaltungsamt – „das schönste Amt der Welt“ – ein tolles Thema für die eigenen Ambitionen. Dass der keine große Ahnung von Verwaltungsarbeit hat und das auch selbst unumwunden zugibt, ist eigentlich tollkühn. Eines Fallschirmspringers der Bundeswehr würdig. Dass in der Stadtverwaltung qualifizierte Mitarbeiter sitzen, wird niemand ernsthaft bezweifeln. Dass sie aber immer wissen, was sie zu tun haben und es deshalb egal ist, ob man als Verwaltungschef zehn oder 300 Mitarbeiter zu führen hat, ist eine geradezu haarstäubende Offenbarung unbewusster Inkompetenz. Eine Stadtverwaltung ist ein derart komplexes Gebilde unterschiedlichster Aufgabenbereiche, dass es ohne die ordnende Hand eines kompetenten Verwaltungschefs bzw. einer Verwaltungschefin früher oder später zum Chaos kommen muss!
Versprechen kann man viel. Die jüngsten Wahlen in aller Welt belegen das. Nicht immer gewinnen die Anständigen. Noch seltener die Ehrlichen.
Wir zeigen allzu gern mit dem Finger auf die anderen:
Der Begriff „Dreckslochländer“ löste hierzulande einen Sturm der Entrüstung aus. Gut so.
Der Begriff „Buschzulage“, mit dem einst Beamten der Dienstantritt in den „Neuen Bundesländern“ versüßt wurde, war ganz sicher genauso unanständig. Für Schlagzeilen war er aber doch nicht schlimm genug. Warum nicht? Das war unanständig.
„Machst du heute mal den Abwasch?“, frage ich meinen Ollen.
„Gern, Schatz!“ antwortet der. Er lügt, ich weiß das. Aber er ist anständig.
Und dafür liebe ich ihn.