Tante Lucie schickt uns keine Päckchen mehr. Nicht, dass wir drauf angewiesen wären, aber trotz aller Wende und dergleichen schickte sie uns immer noch zu den hohen christlichen Festen „West“-Pakete. Mir gefiel das. Aber damit ist es wohl endgültig vorbei. Nicht, dass Tante Lucie verstorben wäre, was wiederum kein Wunder wäre. Immerhin ist die Schwester der Schwester meiner Mutter hoch in den Neunzigern. Freut sich aber noch immer bester Gesundheit. Nehme ich an. Denn Tante Lucie teilt das Schicksal mit Onkel Horst, Tante Gerda, Hanny, Fanny und Nanni.

Sie alle kriegen keine Geburtstagskarten mehr von uns.
Unser Geburtstagskalender hing viele Jahre lang zwischen Einkaufsliste und Müllkalender an der Küchentür. Immer im Blick, immer im Sinn. Dann kam die europäische Datenschutzverordnung und mein Oller war der Meinung, das gäbe nur Ärger. „Wer da alles rankommt!“ Klar, im Kalender standen bloß Vor- meistens sogar nur die Spitznamen. „Geht gar nicht!“ Also kam das für die Familien- und Freundeskreiskommunikation unverzichtbare Kompendium ins „Versteck“. Aus den Augen – aus dem Sinn. Mit den eingangs beschriebenen Konsequenzen. Mein Oller macht, was er für richtig hält, also ruht der ausgesprochen analoge Datumsspeicher gleich neben der Flobert-Kleinstkaliber-Flinte von Opa unter einer Diele in der Tischlerwerkstatt. Unter der Abrichte, gleich hinter dem Leimkocher. „Das hat die Stasi nicht gefunden und unser ABV auch nicht. Da kommen mir die Westbullen auch nicht drauf.“ Mein Oller ist Pragmatiker.

Soll er. Aber seit ich mit dieserart Datenphobie konfrontiert bin, treibt mich eine ganz andere Sorge um. Wie hält es die Allgemeinheit mit meinem ganz persönlichen Datenschutz? Wobei in diesem Fall die Betonung auf „Gemeinheit“ liegt.

Immer wenn ich mit meinem Corsa zum ALDI fahre, muss ich an einer kleinen Tafel in einem Dorf vorbei, die meine gefahrene Geschwindigkeit anzeigt. Grüne Zahlen, wenn ich im Limit liege, rote Ziffern, wenn ich drüber bin. Dazu ein Smili oder ein Ängri. Früher fand ich das einfach bloß lustig. Ich fuhr absichtlich etwas schneller, um die puterrote, wutverzerrte Anzeigefratze zu sehen, um dann abzubremsen, um mitzuerleben, wie übergangslos und nicht im Mindesten nachtragend, ein grünes Gesichtchen mich anstrahlte. Soviel Gleichmut fand ich rührend! Dann überkamen uns erst der Datenwahn und dann mich die Zweifel. Jeder, der außer mir auf der Straße ist, kann ebenfalls sehen, wie schnell ich fahre. Angenommen, ich fahre mit 46 Sachen durchs Dorf, heißt es da nicht sofort: „Haste gesehen, die Rentner, diese Verkehrshindernisse, wie die schleichen! Vielleicht kann die Riegern ja nicht mehr richtig guck‘n, so langsam wie die fährt.“ Brause ich dagegen mit 55 Knoten an der Kita vorbei heißt es: „Der sollte man die Pappe abnehmen, dieser Raser-Sau!“ Will sagen, jedem Verkehrskiller, der bei nächtlichen Rennen in der Hauptstadt Leute totfährt, macht man in der Zeitung einen Balken über die Augen. „Name von der Redaktion geändert…“, selbst wenn da bloß ein Vorname, gefolgt von einem Großbuchstaben mit Punkt dahintersteht. Kinderschändende Eltern in den Fernsehnachrichten partizipieren vom Datenschutz durch verpixelte Gesichter. Aber ich dagegen werde mehrmals die Woche bloßgestellt. Ich und mein Corsa, die jeder im Dorf kennen, durch das ich fahren muss. Nun, ich bin Rentnerin, habe also per se keine Zeit, mich weiter mit dem Thema zu befassen. Der Garten ruft. Sollte aber mal jemand auf die Idee kommen, Mitstreiter für eine Sammelklage gegen diese Art der Verkehrsüberwachung zu suchen – ich wäre sofort dabei. Einfach anrufen. Meine Telefonnummer kann ich natürlich nicht verraten. Aus Gründen des Datenschutzes.

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